Sonntag, 6. November 2011

"Liebe Marie"

... so beginnt Henning Sußebach seinen auf stern.de veröffentlichten Leserbrief an seine Tochter Marie. Marie ist zehn Jahre alt und geht in die fünfte Klasse auf einem Gymnasium mit G8. Wie auch viele andere junge Schülerinnen und Schüler hat Marie durch die Schulzeitverkürzung große Einschränkungen in ihrer Freizeit, um die sich ihr Vater sorgt. In seinem Brief versucht er, ihr in einfacher und doch tiefgründiger Weise zu erläutern, was das achtjährige Gymnasium an Problemen mit sich bringt.
Hier einmal die ergreifendsten Passagen: 

"Ich werde Dir von Schülern berichten, die krank werden vom dauernden Üben. Von Bildungsexperten, die Euch vorm Lernen warnen. Und von Eltern, die ihre Kinder trotzdem nicht in Ruhe lassen. Von Zeile zu Zeile werde ich wütender werden – weil ich wütend bin auf mich und auf ein Land, das Euch alle zu Strebern macht."

"Irgendwann haben wir Deutschen gemerkt, dass die Kinder in anderen Ländern noch schneller lernen als unsere. Dass sie in China früher damit anfangen und in Amerika früher damit aufhören. Und gleich arbeiten. Da hat uns die Angst gepackt. Wir haben uns nicht gefragt, ob es klug ist, zu lernen wie die Chinesen. Wir haben nur gedacht: Bevor die uns einholen, beeilen wir uns auch."

"Jeder Gymnasiast kostet 5000 Euro im Jahr. Geld für die Lehrer, den Hausmeister, die Tafeln und Turnmatten. Allein an Dir und Deinen 27 Klassenkameraden konnten sie also 140.000 Euro sparen."

"Mach auch mal Fehler, Marie! Sachen, die wir Eltern für falsch halten. Du bist ja schon vernünftiger als wir: Als ich Dich neulich gefragt habe, ob ich mittwochs mal schwänzen soll, den Kollegen bei der Zeitung sagen, ich würde zu Hause arbeiten, in Wahrheit aber mit Dir schwimmen gehen, hast Du geantwortet: »Ich habe keine Zeit. Ich kann nur an Wochenenden.«"

 "Warum wird das Buch einer verkniffenen chinesisch-amerikanischen Mutter, die über das Drillen ihrer Töchter schreibt, in Deutschland ein Bestseller? Wieso beschäftigen wir uns ernsthaft mit dieser Frau, die ihren Töchtern droht, die Stofftiere zu verbrennen, wenn sie faul sind?"

"Früher hatten Kinder Kopfschmerzen, weil sie eine Brille brauchten. Heute, weil sie beim Gedanken an die Schule mittlerweile die Gefahr des Scheiterns mitdenken."

"[...] Klassenarbeiten sollen nicht nur helfen, herauszufinden, welcher Schüler wo Schwächen hat – um dafür zu sorgen, dass es beim nächsten Mal besser klappt. Nein: Sie sollen auch helfen, die Schwächsten zu finden und auszusortieren. Deine Lehrerin hat nicht gesagt, es gehe ihr darum, alles zu tun, »damit« Kinder Schritt halten können. Sondern zu prüfen, »ob«."

"Aber Du sollst ruhig wissen, warum wir auf dem Weg ins Kino 17², 56 und 28 gelernt haben.
Du sollst wissen, warum ich Dich manchmal dressiere wie ein Dompteur sein Zirkuspferd – und mir dann wieder auf die Lippen beiße, statt nach der Schule zu fragen.
Du sollst wissen, dass Du mehr bist als die Summe deiner Leistungen.
Du sollst wissen, warum es manche Deiner Freundinnen nicht schaffen werden, warum ihre Stühle irgendwann leer bleiben werden.
Du sollst wissen, dass Depression keine Kinderkrankheit ist.
Du sollst wissen, dass die Schulzeit mehr sein sollte als ein Trainingslager fürs Berufsleben.
Du sollst wissen, dass die Gesellschaft an denen wächst, die sie infrage stellen.
Und Du sollst wissen, dass ich Dir das gestohlene Jahr zurückgeben möchte. An jedem Tag, an jedem Wochenende – und nach dem Abitur."

[Quelle: http://www.zeit.de/2011/22/DOS-G8/seite-1; 30.05.11]

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